Neurussland – in der Landessprache Noworossija – ist der Name des neuen Staates, den Separatisten im Osten der Ukraine ausgerufen haben. Viele haben keine Vorstellung, wie die Ziele des neuen Staates aussehen und ob dieser zu befürworten oder abzulehnen ist. Hier soll aufgeklärt werden, um eine objektivere Diskussion zu ermöglichen.
Eines ist sicher und muss jeder Bewertung vorangestellt werden: Der Westen kann nicht in Anspruch nehmen, die Integrität der Staaten zu respektieren – Er hat sich dutzendfach an ihr vergangen. Wir müssen also prinzipiell davon ausgehen, dass es völlig legitim ist, allemal mit dem direkten Votum der überwältigenden Mehrheit der Bewohner, eine bestimmte Region zu einem unabhängigen Staat zu erklären, denn es kann keine Regeln geben, an die sich nur „die Anderen“ halten müssten. Neurussland ist Realität, Realität die auch den Terrorangriffen der ukrainischen Luftwaffe nach wie vor widersteht.
Der Name – nur eine billige Anlehnung an Russland?
Neurussland im Jahr 1897
Die meisten Menschen nehmen fälschlicherweise an, der Name, den die gegen die Junta in Kiew kämpfenden Rebellen von Donezk dem neuen Bundesstaat gegeben haben, sei lediglich eine Anlehnung an Russland (als Gegenpol zu Europa) ohne weiteren historischen Bezug. Tatsächlich könnte wenig falscher sein. Wir sprechen bei dem Gebiet, dass diese Rebellen in die Unabhängigkeit von dem faschistischen Kiew-Regime führen wollen, um ein Gebiet, dass ursprünglich nicht einmal ukrainisch war.
Die maximale Ausdehnung der neuen Bundesrepublik Neurussland nach der Vorstellung der Rebellen von Donezk (hellrot).
Neurussland war bis zum Ende des 18ten Jahrhunderts Teil des Osmanischen Reiches. Danach wurde es vom russischen Zarenreich erobert – und erhielt seinen Namen: Noworossija, oder eben „Neurussland“. Das Gebiet war dann im russischen Reich eine weitestgehend eigenständige Verwaltungs-einheit. Erst nach der russischen Revolution, genauer gesagt im Jahr 1922, kam das Gebiet erstmalig unter ukrainische Kontrolle, als es bei der Bildung der UdSSR der Ukrainischen SSR (Sozialistische Sowjetrepublik) zugeschlagen wurde. Diese Entscheidung basierte darauf, dass in dem Gebiet von Noworossija zwischenzeitlich eine erhebliche Zahl Ukrainer siedelte und war Teil des Konzepts der Konzentrizität. Dieses Konzept besagte, dass bei der Bildung der Sowjetrepubliken ethnische Gesichtspunkte vorrangig berücksichtigt werden sollten. Historische Ansprüche der Ukraine aus den Streifen Russlands an der Schwarzmeerküste gab es hingegen nicht. Das stellt auch ein wenig in Frage, in wie weit die ukrainische Identität eigentlich durch die Abspaltung eines historisch nicht ukrainischen Gebiets bedroht wäre.
Die Flagge – Provokation oder Bekenntnis?
Über die Flagge Noworossijas wird im Internet – soweit sie überhaupt bekannt ist bzw. Beachtung findet – kontrovers diskutiert. Sie zeigt ein blaues Andreas-Kreuz mit weißem Rand auf rotem Tuch und hat das heute übliche Seitenverhältnis von 1:1,5. In der öffentlichen Wahrnehmung steht die Schwarz-Blau-Rote Tricolore der Volksrepublik von Donezk nach wie vor im Vordergrund.
Die „Flagge der Südstaaten“, Amerika
Oftmals hört und liest man dann die Behauptung, bei der Flagge der Rebellen handele es sich um eine bewusste Anlehnung an die Flagge der Südstaaten (eigentlich die Gösch der Konföderierten Marine). Auch diese zeigt schließlich ein Andreas-Kreuz, obendrein in ähnlicher Farbgebung. Damit wolle man die Amerikaner als erklärten Feind provozieren und trage seine Ideologie offen zur Schau: Separatismus und „Rassismus“ (und da für den Vorwurf, die mit den ukrainischen Antifaschisten verbündeten Volksrepubliken Donezk und Lugansk seien eigentlich rassistisch, bisher jeder substantiierte Beweis fehlt, nimmt man begierig alles, was man findet). Eine Gösch ist übriges die Flagge, welche ein Kriegsschiff am Bug hisst, wenn es vor Anker liegt. Da die Benutzung der offiziellen Kriegsflagge eines Landes oft ebenso eingeschränkt ist wie der Gebrauch der offiziellen Staatsflagge, dient die Gösch in gar nicht einmal wenigen Fällen als Erkennungszeichen in der allgemeinen Bevölkerung.
Was die Vertreter der „Südstaaten-Theorie“ zeigen, ist, dass ihnen jedes Verständnis für die Symbolik anderer Kulturkreise fehlt. Stattdessen beziehen sie alles nur auf die eigene, westliche, Geschichte – gibt es denn eine andere? Nun, es gibt eine offizielle Darstellung Noworossijas zur Bedeutung seiner Flagge. Diese ist stimmig mit dem ersten Eindruck, der sich jedem in den Flaggen der Region kundigen Vexillologen (die Flaggenkunde beschreibt die Regeln zur Erstellung von Flaggen) aufdrängen musste.
Historische und gegenwärtige Flagge der russischen Flotte
Dabei stellt das Andreas-Kreuz im Zentrum der Flagge eine Anlehnung an die russischen Wurzeln des neuen Staates dar. Russland hatte lange, bevor es die amerikanischen Südstaaten gab, ein blaues Andreaskreuz auf weißem Grund als Flagge auf seinen Schiffen geführt – Die Andrejewski-Flagge. Diese Flagge war bis zur russischen Revolution, die alle nationalen Symbole erst einmal in die Dachbodenkammer der Geschichte verbannte, mindestens ebenso bekannt, wenn nicht gar bekannter, als die weiß-blau-rote Nationalflagge oder die schwarz-gelb-weiße Romanow-Flagge.
Der weiße Rand zwischen blauem Kreuz und rotem Grund der Noworossija-Flagge symbolisiert Reinheit und Ehrlichkeit als Ideale der Kämpfer gegen die Junta in Kiew und das rote Tuch der Flagge steht für das vergossene Blut der Revolution. Letzteres ist ein eindeutiger Bezug zu den Kommunisten, deren rote Banner genau diese Bedeutung hatten.
Nebenbei: Dem Autor erscheint es wert, zu erwähnen, dass libysche Monarchistenflaggen (Symbol der westlichen „Demokratiebewegung“ aus Islamisten, ehemaligem libyschen Großkapital und einfachen Kriegsgewinnlern) keine drei Wochen nach Ausbuch der Kämpfe im deutschen Internet auf verschiedenen Seiten bestellt werden konnten. Bei der Flagge Noworossijas ist das, warum auch immer, bisher nicht der Fall. Der Autor bedauert dies ausdrücklich, ist aber nicht überrascht.
Die Regeln – Ein Bündnis der Volksrepubliken
Nach der ausführlichen Betrachtung der Symbole des neuen Staates – Name und Flagge – stellt sich die Frage um so deutlicher: Wo soll die Reise hingehen? Die Nachrichtenlage ist nach wie vor schwierig und der objektive Betrachter ist genötigt, all die Quellen, so zahlreich wie parteiisch, gegeneinander abzugleichen und gewissenhaft zu prüfen. Vieles von dem, was man über Noworossija dabei herausfindet, gibt Anlass zur Hoffnung, hier und da scheint aber auch Kritik angebracht. Was sollen also die Ziele des neuen Staates sein?
Das wichtigste zuerst: Zur Wirtschaft erklärt die gegenwärtige Führung, dass Land, der darunter liegende Grund, Wasser, Flora und Fauna, sowie die „von der Arbeit des Volkes“ geschaffenen Produktionsmittel und das erwirtschaftete Vermögen nicht privat besessen werden könne, sondern dem Volk gehöre. Das würde massive Verstaatlichungen bedeuten. Die Entlohnung werde sich künftig an dem Nutzen der Arbeit des Einzelnen für die Gesellschaft orientieren. Sollten alleine diese Dinge von den beiden Volksrepubliken umgesetzt werden, so sprengt das bei weitem die kühnsten Träume westlicher Linke zur wirtschaftlichen Gerechtigkeit und würde einen Quantensprung in der gesellschaftlichen Entwicklung darstellen. Es wäre die wirtschaftliche Grundlage für eine neue Revolution.
So soll dann auch die Regierungsgewalt in dem neuen Staat möglichst direkt vom Volk ausgehen. Die Legislative soll durch einen Volksrat ausgeübt werden, der von den Sowjets – ja, die neue Föderation verwendet diesen Begriff – gewählt wird. Diese wiederum würden in Betriebs- und Volksräten gewählt. Militärisch stützt man sich auf die Selbstverteidigungsstreitkräfte und die Volksmilizen, die sich zu einem erheblichen Teil aus Freiwilligen zusammensetzen.
Es wurde aber auch bekannt, dass Noworossija eine „Staatsreligion“ einführen würde. Die Russisch Orthodoxe Kirche erhielte hier eine besondere Stellung. Darüber hinaus soll aber die Religionsfreiheit gewährleisten sein, es sei denn religiöse Gruppen gefährden den Frieden innerhalb der Gesellschaft. Die zuletzt gemachte Einschränkung der Religionsfreiheit ist auch aus laizistischer Sicht (im Sinne der Trennung von Kirche und Staat) sicherlich sinnvoll, das aber hätte man auch ohne die Bindung an eine bestimmten Kirche haben können. Die Entscheidung verwundert, will sie doch nicht zu den anderen, schon geradezu revolutionären Erklärungen aus Donezk und Lugansk passen. Es mag allerdings einfach so sein, dass man das extreme Wiedererstarken der Russisch Orthodoxen Kirche nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht ignorieren konnte, so dass sich die Verantwortlichen zu solch einem Bündnis haben verleiten lassen bzw. ein solches Zugeständnis an die Religionsführer für nötig hielten.
Eine gewisse Verwirrung herrscht zur Frage der Amtssprache. Hatten erste Meldungen noch einhellig berichtet, dass russisch und ukrainisch gleichwertig nebeneinander offizielle Amtssprache des neuen Bundesstaates sein sollten, kommen nun verstärkt Meldungen, nach denen russisch die einzige Amtssprache sein solle, ein Recht auf die Verwendung jedweder anderen Sprache zum Zwecke der Kommunikation aber garantiert werde. Was zutrifft, wird sich zeigen, aber hier wären die Volksgouverneure schlecht beraten, sich an der neuen Ukraine ein Beispiel zu nehmen was den Umgang mit Sprache angeht. Die Rechte der Ukrainer, die in dem Gebiet Noworossijas leben werden, sollten peinlich genau geachtet werden. Dazu muss es auch gehören, dass ihre Sprache – neben russisch – in den Behörden des Landes und vor allen Dingen den Schulen gesprochen wird.
Ansonsten soll durch das Bündnis die Unabhängigkeit der Volksrepubliken nicht berührt werden. Auch hier lehnt man sich an die UdSSR an, deren Bundesstaaten erhebliche Entscheidungsfreiheit auf ihrem Gebiet hatten. Eine Erweiterung des Gebiets Noworossijas bis nach Odessa wünschen sich die Volksgouverneure von Donezk und Lugansk: Dnepopetrowsk, Saporoschje, Odessa, Nikolajewa, Charkow und Cherson sollen sich dem neuen Bündnis anschließen. Hierzu wäre aber ein Referendum über den Anschluss nötig.
Bereits vor der Wahl in der Ukraine machten die Volksgouverneure eine beeindruckende Friedensgeste:
Sie erklärten sich bereit, das Ergebnis der bevorstehenden Wahl anzuerkennen – Wenn Kiew auch die Existenz von Noworossija anerkennt.