In der Korrespondenz „Jetzt reden wir: Die Kriminalisierung fängt mit Begriffen an“ auf der Onlineplattform der MLPD, RF-News, kommt der Autor am Rande zu dem Schluss, Bildung sei eine Voraussetzung für die Einleitung der Revolution – das klingt erst einmal logisch, ist aber sehr falsch. Diese Schlussfolgerungen des Artikels sind grundsätzliche Fehler und auch ein Ausdruck kleinbürgerlich-intellektueller Denkweise. Damit kenne ich mich gründlich aus; ich habe selbst mehr als genug von beidem.
In dem Artikel heißt es wörtlich:
„Wer sich befreien will, muss aber Marx und Lenin lesen können. Analphabetentum, stellenweise bei 70-90%, minimiert die Chancen auf Selbstbefreiung.“
Die Hypothese ist also: Marxistische Lektüre ist eine Voraussetzung für die Selbstbefreiung der Massen. Das hat aber gar keine Grundlage in der objektiven Wirklichkeit.
Wenn wir nämlich in die Vergangenheit blicken, dann stellen wir fest, dass die Massen für ihre Selbstbefreiung kämpften, ob sie nun lesen konnten, oder nicht. Hätten sie ein tiefes Verständnis der marxistischen Lehren gehabt, wäre ihnen wohl mancher Fehler erspart geblieben – aber hat deswegen die russische Revolution nicht stattgefunden? Hat das chinesische Volk die Japaner und ihre eigenen Nationalisten nicht verjagt? Hat das vietnamesische Volk nicht in drei nahtlos aufeinander folgenden Kriegen gegen drei verschiedene imperialistische Mächte seine nationale Unabhängigkeit unter der Roten Flagge erkämpft? Das alles kann dann ja wohl nicht so gewesen sein, denn alle diese Völker hatten zu der gegebenen Zeit einen hohen Analphabeten-Anteil.
Ich halte diese Hypothese also für eine deutliche Überbewertung: Sogar viele kämpferische Genossinnen und Genossen der Vergangenheit, aufrichtige, erfolgreiche und inspirierende Revolutionäre, waren nach unseren Maßstäben relativ ungebildet. Nun will ich damit die Einheit von Theorie und Praxis nicht auflösen, indem ich sie für völlig unnötig erkläre, möchte aber doch darauf hinweisen, dass es nicht der wortgetreuen Kenntnis der Schriften von Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao bedarf, um die inhärente Ungerechtigkeit des kapitalistischen Systems und die finstere Bösartigkeit des Imperialismus zu erkennen.
Nehmen wir den US-amerikanischen Gewerkschaftsführer William Dudley Haywood (genannt Big Bill Haywood) als Beispiel:
„Ich habe das Kapital von Marx nie gelesen, aber die Spuren des Kapitals sind überall an mir.“
Im Original: „I’ve never read Marx’s Capital, but I have the marks of capital all over me.“
Haywood hatte viele Schwächen, und dies war eine seiner Schwächen – aber sie hat ihn nicht davon abgehalten, seine Gedanken weitgehend in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zu bringen und für die gerechte Sache nicht nur mit Überzeugung, sondern auch überzeugend zu kämpfen. Nach seiner Flucht aus dem USA wurde er zu einem Berater der kommunistischen Führung; seine Asche ruht im ersten Grab von rechts auf der rechten Seite der Kremlmauer.
Intelligenz und Empathie sind keine Frage des Buchwissens. Deswegen ist es eine Falle, die Frage der Revolution nur davon abhängig zu machen, wie gut das Wissen über die Lehren der marxistischen Klassiker unter den Massen verbreitet sind. Vergessen wir nie: Millionen haben bereitwillig ihr Leben im Kampf gegen die Imperialisten und für die Revolution gegeben, ohne je die Gelegenheit gehabt zu haben, auch nur das Kommunistische Manifest zu lesen!
Kurzum: Auch wenn’s besser ist, Marx gelesen zu haben, sollte ich weder den Willen noch die Fähigkeit derjenigen, die diesen Vorzug nicht genossen, unterschätzen, sich mit allem, was sie sind und haben, für den Marxismus einzusetzen.
Ja, das bedeutet auch, dass falsche Vorstellungen unter den Massen verbreitet waren, sind und sein werden. Sich damit auseinander zu setzen ist unsere Aufgabe als Marxisten-Leninisten. Die Völker, die ich eingangs nannte, hatten eben nicht nur einen hohen Analphabeten-Anteil, sondern noch etwas anderes, was den Erfolg der Revolution dennoch sicherte: Eine kommunistische beziehungsweise marxistisch-leninistische Partei als „Avantgarde der Arbeiterklasse“.