Nun, man kann es kaum glauben, aber niemand freut sich offiziell nicht.
Auch wenn 80 % der parlamentarisch vertretenen Parteien, die in diesen Tagen das Grundgesetz hoch leben lassen, in den letzten Jahren den größeren Teil ihrer politischen Arbeit darauf verwendet haben es zu entkräften, zu zersetzen, zerfasern, relativieren – kurz, es stückchenweise in der Anwendung abzuschaffen.
Ich würde denken, ein Klagen sei in diesen Tagen zu hören, daß man das Grundgesetz (liebevoll von den Juristen GG genannt), in nunmehr 60 Jahren immer noch nicht offiziell hat bei Seite schaffen können. An Versuchen hatte es sicherlich nicht gefehlt.
Überwachungsstaat mit Bundespolizei, Humanitäre Missionen mit Bombenteppich (Ach, Joschka, dafür hast Du Dir das Goldene Mikrofon ’99 wirklich mal verdient), Piratenjagd vor Afrika, Tornados gegen Demonstranten und bei allem gilt: Du, bist Deutschland!
Ja, Du bist dafür verantwortlich, werter Leser.
Das alles passiert ja auch nur zu Deinem Wohl.
Nun gut, solcherlei sollte einen vieleicht doch nicht überraschen. Jüngst hat schließlich auch die FDP ihre Rolle als Hüterin der sozialen Marktwirtschaft wiederentdeckt. Und wenn man sie nicht abzuschaffen geholfen hätte, könnte man jetzt mit Ihrer „Bewahrung“ auch wenig Aufmerksamkeit bekommen. Wer etwas wiederfinden will, muß es bekanntlich erst einmal verloren haben.
Es bewahrheitet sich, was Max Reimann vor nunmehr 60 Jahren schon für die KPD vorhersagte:
„Wir unterschreiben nicht. Es wird jedoch der Tag kommen, da wir Kommunisten dieses Grundgesetz gegen die verteidigen werden, die es angenommen haben!“
Und dieser Tag ist heute.
Aber, die Sache hat ja einen Haken.
Gibt es bei alledem denn auch gute Gründe, „gegen das Grundgesetz“ zu sein? Kann es die überhaupt geben? Darf es?
Die Antwort ist für manchen sicherlich ernüchternd: Ja, natürlich geht das.
Das Grundgesetz ist am Ende nur ein Minimalkonsenz. Es wäre viel mehr wünschenswert und auch machbar.
Wie unzureichend das Grundgesetz tatsächlich ist, zeigt sich auch daran, daß es diesen besagten Parteien – wieder und wieder – gelingt, es im Wort zu verdrehen und gegen sich selbst zu kehren, einfach durch Interpretation.
Und die, die jetzt sagen, es habe sich die letzten 60 Jahre bewährt (interessanter Weise meistens identisch mit den in diesem Artikel zuerst bedachten Personen) müssen sich konkrete Fragen gefallen lassen: Hat man ein praktisch ausübbares Recht auf freie Berufswahl? Werden deutsche Soldaten nur eingesetzt, um deutschen Boden gegen fremde Invasoren zu verteidigen? Die Liste lässt sich fortführen.
Dennoch, wie Reimann sagte, müssen wir Linken jetzt dafür streiten, wenigstens diesen Minimalkonsenz zu erhalten, da wir ansonsten die Grundlage für die Einforderung unserer Rechte verlieren. Und das heißt vornehmlich: Unsere oben genannten Rechte auch wieder durchzusetzen! Es heißt nicht, daß Grundgesetz im Wortlaut, sondern in der Anwendung zu retten. Epistula non erubescit – Papier ist geduldig.
Das heißt also, solange wir nicht in der Lage sind, eine würdige Verfassung frei zu wählen, muß der Erhalt der im Grundgesetz formulierten Rechte Grundlage unseres tagespolitischen Handelns sein; trotz aller Kritik. Und mit „wir“, damit meine ich uns alle, jeden Bürger. Nur durch eine Volksabstimmung kann eine Verfassung die Legitimation erhalten, die sie braucht, um Ihren Gültigkeitsanspruch ernsthaft zu unterstreichen. Nur so wird sie dem Grundsatz „Vom Volk, für das Volk“ gerecht.
-Fritz Ullmann